Michael Müller: Mögliche und unmögliche Bilder
Der deutsch-britische Künstler Michael Müller (*1970) trat neben seinem künstlerischen Werk in den letzten Jahren auch verstärkt mit seiner kuratorischen Praxis in den Vordergrund. Im Jahr seines 20. Jubiläums hat das Museum im Kulturspeicher den in Berlin lebenden Künstler eingeladen, mit der Würzburger Städtische Sammlung zu arbeiten. Im Rahmen dieser Einladung präsentiert das Museum neben der Ausstellung Die Errettung des Bösen auch die Ausstellung Mögliche und unmögliche Bilder, die eine intensive künstlerische Auseinandersetzung Müllers mit dem Birkenau-Zyklus (2014) Gerhard Richters ist. In der zentralen Arbeit Mögliche und unmögliche Bilder #I (2022) dekonstruiert Müller mit malerischen Mitteln Richters Gemälde, die auf den einzigen vier überlieferten Fotografien basieren, die die Vernichtung der europäischen Juden in dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau direkt und unmittelbar dokumentieren, und stellt grundlegende Fragen nach den Darstellungsmöglichkeiten und Grenzen von Kunstwerken.
Mögliche und unmögliche Bilder
„Ich denke, generell gibt es kein Bild, das man nicht malen kann“, antwortet Gerhard Richter 2001 auf die Frage, ob es möglich sei, Gemälde nach Fotografien der industriellen Vernichtung von Menschen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern während des Holocausts zu schaffen. Vielleicht möge es persönliche Grenzen geben, etwa die eigene (malerische) Unfähigkeit, doch prinzipiell sei alles mal- und darstellbar.
Im Jahr 2014 schafft Richter seinen aus vier Gemälden bestehenden Birkenau-Zyklus und zusätzlich vier digitale, auf Aluminiumplatten gedruckte Reproduktionen dieser Bilder, die, jeweils in vier Rechtecke geschnitten, im Eingangsbereich des Reichstagsgebäudes in Berlin installiert sind. Grundlage für die Gemälde waren die vier einzigen Fotografien, die die Vernichtung von Juden im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau direkt und unmittelbar dokumentieren. Von einem Häftling unter Todesgefahr aus einer Gaskammer heraus aufgenommen und aus dem Lager geschmuggelt, zeigen sie die Verbrennung von Leichen und nackte Frauen in einem Waldstück auf dem Weg in die Gaskammer des Vernichtungslagers. Richter malte die vier Aufnahmen fotorealistisch in Öl auf Leinwand. Mit dem Ergebnis unzufrieden, da es seiner Ansicht nach nicht gelungen sei, die Vorgänge und das Leid des Holocaust in ihrer Gänze in seinen Gemälden festzuhalten und darzustellen, bearbeitete er sie anschließend mit einem Rakel und den Farben Schwarz, Grau, Grün und Rot weiter, bis abstrakte Formen die gesamten Leinwände und die figurativen Darstellungen überdeckten. „Es gibt eben Fotos, die ich durchs Abmalen nur zu schlechten Bildern machen könnte. Und diese vier Fotos sind so gut, dass ich sie nur so belassen kann. Man kann sie beschreiben oder ihnen eine Musik widmen oder, wenn es gut geht, ein abstraktes Bild widmen.“ Ursprünglich Vier abstrakte Bilder genannt, ändert er den Titel später in Birkenau, um eine auf den Bildern selbst nicht mehr erkennbare Spur zu ihrem Ursprung und historischen Bezug zu legen.
In seiner 16-teiligen Arbeit Mögliche und unmögliche Bilder #I (2022) dekonstruiert Michael Müller Richters Birkenau-Zyklus. Ohne dabei den direkten Vergleich zwischen zwei Malern (Richter vs. Müller) zu suchen, also die von Richter aufgeworfene These nach den individuellen malerischen Fähigkeiten und persönlichen Grenzen als Bedingung der Möglichkeit der Malbarkeit eines jeden Bildes weiter zu verfolgen, führt Müller vielmehr die Ausgangsfrage Richters, ob alles prinzipiell mal- bzw. zeigbar ist, weiter, indem er sich der Ästhetik Richters bedient, um zu untersuchen, was unterschiedliche Kunstwerke erreichen können. Zwar könne sich Kunst, so Müller, allem widmen und jeden Themas annehmen, alles malen und zeigen, aber kann sie auch alles erreichen? Ist es möglich, ein empathisches Bild des Holocausts zu geben? In der Gänze seiner unmenschlichen, absoluten und totalen Vernichtungskraft, in seinem Drang, selbst noch die letzte Spur seiner Existenz zu zerstören?
Für seine Untersuchung legt Müller die Malschichten von Richters Birkenau-Bildern frei und befragt sie nach ihrer jeweiligen Aussagekraft: Als untere, später verdeckte Schicht die malerischen figurativen Reproduktionen der vier aus dem KZ Auschwitz-Birkenau stammenden Fotografien des Vernichtungsprozesses an den europäischen Juden – ergänzt um die für Richter typische Wischtechnik, die das Dargestellte verschleiert und es doch erkennen lässt. Die zweite Ebene bilden die abstrakten Übermalungen, die mit einem Rakel gezogenen Schlieren und Streifen – eine Technik, die den Zufall in den Malprozess einlässt und als unreproduzierbar gilt. Müller, dem die Reproduktion gelingt, zeigt, dass auch der vermeintliche Zufall und die Willkür Ergebnisse künstlerischer Entscheidungen sind, die wie die digitalen Abzüge auf Aluminium im Reichstagsgebäude, auf die Müller mit der Wahl seines in der Ausstellung gezeigten Bildträgers, der auch in vier Paneele unterteilt ist, reproduzierbar sind. Nebeneinander an vier Wänden des Ausstellungsraums installiert, die Besucher*innen umgebend, bleibt es an ihnen zu entscheiden, was überhaupt mal- und zeigbar ist – was jedes der zu sehenden Werke auf individuelle Weise zeigt.
Müllers Antwort auf die Frage lautet indessen deutlich: Alles ist mal- und zeigbar, aber nichts stellt dar, was ethisch angemessen ist. Es gibt kein Bild, das universell und vollständig die Welt zeigt, sondern jedes Bild bezieht Position und muss sich zur Welt verhalten, zu dem, was es zeigt. Selbst das dokumentarische Bild, die aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau stammenden Fotografien sind bei aller Authentizität des auf ihnen zu sehenden Ortes und Geschehens, ihrer unbestreitbaren Zeugenschaft nicht vollständig, sondern ausschnitthaft, selektiv, perspektivisch – und gewinnen gerade dadurch ihre Notwendigkeit, Bedeutung und Würde. Die auf ihnen zu sehenden blinden Flecken und das zu erahnende Abwesende, das gerade nicht gezeigt wird, zeichnet ihre Menschlichkeit und Einmaligkeit aus.
Dass ein angemessenes Bild nicht malbar ist, affirmiert jedoch nicht, dass das Ereignis des Holocausts etwas Mystisches ist und damit ‚außerhalb‘ der Welt steht, sich dem menschlichen Verstand und seiner Fähigkeit zu begreifen entzieht. Im Gegenteil, so Müller auf Hannah Arendts Begriff der Banalität des Bösen rekurrierend, ist die Massenvernichtung eine ‚banale‘ und nicht eine mystische Aktion des Menschen, ein Verbrechen von Menschen an Menschen. Die Aufgabe der Kunst ist nicht, eine (malerische) Reproduktion des Leids zu erschaffen, sondern sie kann Strukturen aufzeigen.
Über Michael Müller
In seinem Werk setzt sich der deutsch-britische Künstler Michael Müller (*1970 in Ingelheim am Rhein) mit der Ästhetik und Bildwerdung komplexer Gedankenprozesse auseinander, die er beständig nach ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit und ihrem materiellen Gehalt befragt. Ausgehend von historischen Narrativen, wissenschaftlichen Methoden, gesellschaftlichen Normen sowie sprachlichen und numerischen Systemen entwickelt er eine künstlerische Praxis, die diese Systeme und Strukturen durch Variation, Transformation, Manipulation und fiktionalisierende Modifikation immer wieder an ihre Grenzen führt. Die entstehenden Abweichungen und Irritationen sowie der sich daraus ergebende Zweifel am Bestehenden und das Misstrauen gegenüber unhinterfragten Wahrheiten schaffen eine völlig eigenständige künstlerische Formensprache, die sich neben großformatigen Gemälden und Zeichnungen auch in Skulpturen, Installationen, Performances sowie in Müllers kuratorischer Praxis manifestiert.
Michael Müller lebt und arbeitet in Berlin. Von 2015 bis 2018 lehrte er als Professor an der Universität der Künste zu Berlin (UdK).